Bei
Magersucht wirkt Familientherapie meistens besser
als Einzelbehandlung - das ergab ein Vergleich
beider Ansätze. Die Einbeziehung der Eltern bewirkt
demnach, dass die Kranken nicht so leicht rückfällig
werden.
Chicago - Ist bei Magersucht eine
Familientherapie wirksamer als die individuelle
Behandlung des Patienten? Experten streiten seit
langem über diese Frage. Jetzt glauben amerikanische
Forscher, sie mit einem direkten Vergleich der beiden
Behandlungsformen beantwortet zu haben.
"Diese Studie war dringend nötig", sagt
Untersuchungsleiterin Lucille Packard von der
kalifornischen Stanford University. Es handele sich um
den ersten direkten Vergleich der zwei Therapien.
"Anorexie ist eine lebensbedrohliche Krankheit, und es
ist bemerkenswert, wie wenig wir über die Behandlung
wissen", sagt die Forscherin. Menschen mit Magersucht
fühlen sich zu dick und versuchen nach Möglichkeit
abzunehmen. Betroffen sind etwa sechs von Tausend
Mädchen, Jungen erkranken deutlich seltener.
In der Studie verglichen die
Wissenschaftler 120 Patienten, die sie in zwei Gruppen
einteilten: Eine per Los ausgewählte Gruppe unterzog
sich ein Jahr lang einer Psychotherapie, die sich auf
die Ängste der Patienten konzentrierte. In der anderen
Gruppe wurden die Eltern mit in die Behandlung
einbezogen: Über die Dauer eines Jahres wurden sie
unter anderem regelmäßig angewiesen, verstärkt auf das
Essverhalten ihrer Kinder zu achten.
Ein Jahr nach dem Ende dieser
Familientherapie war etwa die Hälfte der zuvor
Magersüchtigen vollständig symptomfrei. Sie hatten
mindestens 95 Prozent des Normalgewichts und kein
gestörtes Verhältnis mehr zum Essen. In der
individuell behandelten Vergleichsgruppe lag der
Anteil nur bei knapp einem Viertel der Teilnehmer,
berichten Wissenschaftler im Fachblatt "Archives of General
Psychiatry".
Der Unterschied zwischen beiden
Verfahren beruhte vor allem darauf, dass die
Teilnehmer nach Abschluss der Familientherapie
seltener einen Rückfall erlitten. "Obwohl beide
Ansätze einem Teil der Patienten halfen, deutet die
Studie stark darauf hin, dass die Familien-basierte
Therapie als Erstbehandlung überlegen ist", sagt
Studienleiter James Lock. "Ärzte sollten verstehen,
dass Eltern hilfreich sein können." Der Psychiater
betont jedoch, dass manche Patienten durchaus eher von
einer Einzeltherapie profitieren könnten.
boj/dapd>
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12.12.2011:
<Magersucht: Eltern ignorieren Essprobleme der
Töchter oft> - neue Studie aus Dresden
aus: Welt online; 12.12.2011;
http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article13763186/Eltern-ignorieren-Essprobleme-der-Toechter-oft.html
<"Für so 'nen Scheiß
habe ich keine Zeit" – das mussten sich Forscher
anhören, als sie Eltern auf mögliche Essstörungen
ihrer Kinder hinweisen wollten.
Völlig überzogene Sorgen um das Gewicht treiben
Mädchen von der Küche in die Toilette. Eltern
übersehen die Probleme manchmal wissentlich.
Ernüchternde Zwischenbilanz einer
Studie zu Essstörungen der Universität Dresden: Viele
Eltern wollen die Probleme ihrer Töchter offenbar
nicht wahrhaben. Die Dresdner Psychologen hatten den
Eltern von Mädchen, bei denen ein Risiko einer
Essstörung festgestellt worden war, ein diagnostisches
Gespräch angeboten.
Etwa die Hälfte, hieß es, habe
abgelehnt mit teils harsch vorgetragenen Reaktionen
wie "Für so 'nen Scheiß hab' ich keine Zeit" oder "Das
wächst sich schon wieder zurecht."
Die Erfahrung machten die
Psychologen bei der Entwicklung eines
familienbasierten Vorsorgeprogramms gegen Magersucht.
Sie verteilten mehr als 6.000 Fragebögen an über 40
Schulen in Dresden - nur 25 Prozent kamen ausgefüllt
zurück.
Adressaten waren 11- bis 17-jährige
Mädchen und ihre Eltern. Aus den Antworten sollte
festgestellt werden, ob ein Risiko für die Entwicklung
einer Essstörung besteht.
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Ist dies der Fall, werden die
Betroffenen zu einem ausführlichen Gespräch
eingeladen. Bestätigt sich das Risiko, erhalten die
Eltern die Möglichkeit, an einem Internet-gestützten
Vorsorgeprogramm teilzunehmen.
Anhand der ausgefüllten Fragebögen
identifizierten die Psychologen knapp 150 Mädchen mit
einem Magersucht-Risiko. Deren Eltern nahmen das
Gesprächsangebot dann zu etwa 50 Prozent nicht an. Die
Wissenschaftler suchen weitere Teilnehmer für ihre
Studie.
dapd/cl>
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16.12.2011: <Anorexia
nervosa: Magersucht mit Flexibilität
überwinden>
aus: Der Standard online; 16.12.2011;
http://derstandard.at/1323916573943/Anorexia-nervosa-Magersucht-mit-Flexibilitaet-ueberwinden
<Neues Behandlungsprogramm soll Betroffenen
erleichtern sich ausserhalb von eingeübten
Verhaltensweisen und Ritualen zu bewegen.
Ein neues Therapiekonzept für Magersüchtige
haben Wissenschaftler der Medizinischen
Universitätsklinik Heidelberg entwickelt: Ein
systematisches Training in flexiblem Verhalten soll
die Voraussetzungen dafür schaffen, die schädlichen
Essgewohnheiten zu überwinden. Die Therapie wird ab
sofort im Rahmen einer Studie angeboten.
Magersüchtige Patienten schränken
ihre Nahrungszufuhr extrem ein, was zur
lebensgefährlichen Abmagerung führen kann. Häufig sind
sie nicht in der Lage, ihr Verhalten zu ändern, selbst
wenn sie dies wollen. Das neue Behandlungsprogramm
soll Betroffenen die Verhaltensänderung erleichtern.
Das Training besteht aus insgesamt
30 Einheiten in einem Zeitraum von ca. einem Monat und
ist sehr spielerisch gestaltet: In neun Treffen mit
einem Trainer und ansonsten daheim am Computer üben
die Teilnehmerinnen zuvor erlernte Verhaltensweisen,
z.B. das Lösen leichter Aufgaben nach einem bestimmten
Muster, kurzfristig abzuändern. Jede Einheit dauert
ca. 50 Minuten.
Weitere Übungen sind in den Alltag
der Teilnehmerinnen integriert: „Dabei geht es
zunächst einmal darum, ganz kleine Änderungen
alltäglicher Gewohnheiten auszuprobieren, wie z.B. die
Armbanduhr auf der anderen Seite zu tragen", erklärt
Timo Brockmeyer, Diplom-Psychologe an der
Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin und
Psychosomatik, der die Studie begleitet. „Viele
Magersuchtkranke verunsichert es sehr, sich außerhalb
ihrer Alltagsroutinen und Rituale zu bewegen. Das muss
in kleinen Schritten trainiert werden."
Verhaltensänderungen fallen
sehr schwer
Die Magersucht (Anorexia nervosa)
ist eine schwere Essstörung, die mit anhaltenden
psychischen Beschwerden einhergeht. Trotz intensiver
Behandlung nimmt die Erkrankung bei 20 bis 30 Prozent
der Magersüchtigen einen schweren und chronischen
Verlauf; rund 10 Prozent sterben daran. Betroffene
berichten, dass es ihnen im Verlauf der Erkrankung
zunehmend schwerer fällt, sich auf veränderte
Lebensbedingungen einzustellen sowie eingeübte
Verhaltensweisen, Rituale und Denkmuster aufzulösen.
Diese verminderte Flexibilität erschwert es den
Magersüchtigen, aus ihrem selbstzerstörenden Verhalten
auszubrechen.
Hans-Christoph Friederich, Leitender
Oberarzt der Universitätsklinik für Allgemeine Innere
Medizin und Psychosomatik, zeigte 2009, dass bei den
Erkrankten Veränderungen im Gehirn den Wechsel
eingeübter Routinen wie dem Essverhalten erheblich
erschweren. Dazu untersuchten sie 30 junge Frauen mit
oder ohne Anorexie. In einem Test, der die Fähigkeit
zu einem flexiblen Verhaltenswechsel aus einem
kurzfristig eingeübten Verhalten prüft, hielten
Magersuchtkranke häufiger als gesunde Frauen an der
vertrauten Verhaltensantwort fest. Gleichzeitig waren
bei ihnen bestimmte Gehirnareale vermindert aktiv, die
bei flexiblem Verhalten eine entscheidende Rolle
spielen.
Auf Grundlage dieser Ergebnisse
entwickelte das Team das neue Behandlungsprogramm, das
nun im Rahmen der aktuellen Studie auf seine
Wirksamkeit hin überprüft wird. Ob das Programm auch
Änderungen in der Gehirnaktivität bewirkt, sollen
Untersuchungen der Teilnehmerinnen mit dem
Magnetresonanz-Tomographen (MRT) vor und nach dem
Training zeigen. „Das Programm könnte die
Erfolgsaussichten anschließender psychotherapeutischer
Interventionen verbessern, indem es die Patientinnen
auf die nötigen Veränderungsprozesse vorbereitet", so
Friederich. (red)>
Magersucht am 29.10.2025: Mädchen
wollen nicht erwachsen werden: Die Wahrheit über Essstörungen, über die niemand
spricht
https://www.nau.ch/lifestyle/fitness/die-wahrheit-uber-essstorungen-uber-die-niemand-spricht-67058667
Judith Heede - Bern - Essstörungen sind keine Frage
von Disziplin oder Schönheit, sondern von Schmerz,
Scham und Selbstverlust. Ein Gespräch über das, was
selten ausgesprochen wird.
Das Wichtigste in Kürze
In
der Schweiz leiden rund 3,5 % der Bevölkerung an
einer Essstörung.
Ca.
1 % der Frauen leiden an Anorexie, 2 % an Bulimie
und ebenso viele an Binge Eating.
Scham
und Angst vor Bewertung führen dazu, dass viele
Betroffene keine Hilfe suchen.
In der aktuellen
Netflix-Dokumentation
«Victoria
Beckham» spricht die Modedesignerin zum ersten
Mal offen über ihre Essstörung. In Archivausschnitten
sieht man, wie Schlagzeilen ihren Körper zum
öffentlichen Thema machen. Wenige Monate nach der
Geburt ihres ersten Sohnes wird sie vor laufender
Kamera gewogen.
Diese Bilder
erzählen von der globalen Haltung, Frauenkörper als
öffentliche Projektionsfläche behandeln zu dürfen.
Essstörungen wurden öffentlich verurteilt, statt
verstanden.
Gerade darin
liegt ein Kernproblem der gesellschaftlichen
Wahrnehmung. Während andere psychische Erkrankungen
meist auf Sorge und Mitgefühl stossen, werden
Essstörungen noch zu oft als oberflächliche Eitelkeit
abgetan. Für viele Betroffene bedeutet das ein Leben
im Verborgenen – geprägt von Scham, Selbstkontrolle
und der Angst,
nicht ernst genommen zu werden.
Keine andere Krankheit wird so stark
verurteilt
Genau darüber
spreche ich mit Lauren Helen, klinische
Ernährungstherapeutin und kognitive
Verhaltenstherapeutin aus Kapstadt, die seit Jahren
Menschen mit Essstörungen behandelt und die
Mechanismen hinter Symptom, Stigma und Heilung präzise
beschreibt.
Jahrelang wurde die öffentliche
Debatte über diese Krankheiten durch eine verzerrte
Linse betrachtet, die vor allem weibliche Betroffene auf
fragile Narzisstinnen reduzierte – getrieben von
Eitelkeit oder mangelndem Selbstwert, den sie durch ein
perfektes Äusseres zu kompensieren versuchten. Zwar kann
Unsicherheit eine Rolle spielen, doch die Realität ist
weit komplexer.
Über viele Jahrzehnte bestimmten
Männer, worüber in der Psychologie geforscht und
gesprochen wurde. Themen, die Männer betrafen – etwa
Alkohol- oder Drogenabhängigkeit – galten als ernsthafte
Krankheiten und wurden entsprechend untersucht.
Ganz anders der
Blick auf Essstörungen: weil sie überwiegend Frauen
betrafen, wurden sie lange verharmlost oder moralisch
bewertet. Statt die seelischen Ursachen zu erkennen,
deutete man sie als Ausdruck von
Aufmerksamkeitsbedürfnis, Kontrollverlust oder dem
Wunsch, einem modischen Ideal zu entsprechen. Dieses
Ungleichgewicht prägte die öffentliche Einstellung
gegenüber der Krankheit über Jahrzehnte hinweg.
Die meist
missverstandene Sucht überhaupt
Lauren leitet
ihre eigene Klinik und arbeitet mit der Schweizer
Balance Rehab Clinic zusammen. Sie erklärt dieses
Phänomen mit bemerkenswerter Klarheit:
«Viele Menschen
mit Essstörungen sind hochgradig autonom», sagt sie.
«Die Krankheit ist regelrecht darauf aus, dass du in
der Art und Weise, wie sich deine Essstörung zeigt,
einzigartig bist. Deshalb funktionieren
Gruppensitzungen oft nicht.»
Als ehemalige
Betroffene kann ich das gut nachvollziehen. Ich wurde
jahrelang von Menschen verurteilt, die glaubten, ich
würde hungern, um besonders oder wie ein Model
auszusehen. Dieser Gedanke macht mich noch heute
wütend, weil er das massive Leiden hinter den
Symptomen völlig ignoriert. Essstörungen sind weit
mehr als ein Kampf um Gewicht oder Kontrolle.
In einer männlich dominierten Welt wurden
Essstörungen nie ernst genommen
Frühe Forschende
sahen in Anorexie vor allem das Streben nach Kontrolle
– als psychologischen Versuch, in einer unsicheren
Welt Macht zurückzugewinnen. Eine der frühesten und
einflussreichsten Studien, die diese Sichtweise
prägten, wurde 1982 von Psychologe Michael Strober
und seinen Kolleginnen veröffentlicht.¹
Sie untersuchten
Jugendliche mit Anorexia nervosa und stellten eine
deutliche Störung ihres Locus of Control fest, also
ihres Glaubens an die eigene Fähigkeit, Ereignisse und
Ergebnisse zu beeinflussen. Die Studie kam
zu dem Schluss, dass Anorexie oft als
Bewältigungsmechanismus entsteht, um Ordnung zu
schaffen, wo das Leben chaotisch erscheint.
Für Lauren ist
die Sache weitaus komplexer
«Essstörungen
sind sehr missverstandene Krankheiten», sagt sie. «Und
viele Fachleute wollen sich damit gar nicht befassen.
Wenn man sich die alten pathologischen Konzepte
anschaut, dann basieren sie stark auf dem Wunsch, dünn
zu sein.
Aber dieser
Wunsch ist sekundär: zu möglichen Traumata,
emotionaler Entfremdung, einem Gefühl von Unsicherheit
und unregulierten Bewältigungsmechanismen, die sich
oft schon viel früher entwickeln.»
In grossen Teilen
der modernen Psychologie blieb diese tiefere
Komplexität lange unbeachtet. Krankheiten, die vor
allem Frauen betrafen, galten häufig als Ausdruck von
Eitelkeit oder mangelnder Selbstbeherrschung.
So entstand ein
wissenschaftliches und gesellschaftliches Verständnis,
das Essstörungen als ästhetisches Problem statt als
psychologische Erkrankung betrachtete, als moralisches
Versagen statt als Ausdruck inneren Schmerzes. Diese
Verzerrung offenbart nicht nur eine Forschungslücke,
sondern auch eine kulturelle Haltung, die weibliches
Leiden seit Generationen gering schätzt.
Essstörungen
gedeihen im Verborgenen
«Essstörungen
führen zu einer extremen Abspaltung verschiedener
Lebensbereiche», erklärt Lauren. «Das Geräusch der
Essstörung wird so laut, dass es alles übertönt.
Deshalb ist es so
wichtig, andere Lebensbereiche wiederzuentdecken: Was
magst du ausserhalb der Essstörung? Wie würde es
aussehen, wenn du einfach mal einen ‚Cheat Day‘
hättest?»
Während der Corona-Pandemie,
erzählt Lauren, sei die Zahl der Betroffenen sprunghaft
angestiegen. Isolation
und Schweigen wurden absolut. «Zum ersten Mal
hatte ich genauso viele Männer wie Frauen in
Behandlung», sagt sie. «Männer neigen eher zum
Überessen, Frauen stehen unter grösserem Druck, dünn zu
bleiben.
Manche erbrechen
sich, andere hören einfach auf zu essen. Männer
hingegen schämen sich meist noch stärker, weil
Essstörungen als weiblich gelten. Es dauert oft sehr
lange, bis sie zugeben, dass sie ein Problem haben und
Hilfe brauchen.»
Was die
Forschung dazu sagt
Scham und
Geheimhaltung sind nicht nur Gefühle, sondern messbare
Barrieren auf dem Weg zur Hilfe. Eine Studie aus
dem Jahr 2024 im Journal of Eating Disorders
untersuchte 333 Menschen mit ausgeprägten
Essstörungssymptomen.²
Das Ergebnis:
Wahrgenommene Stigmatisierung, Selbststigmatisierung
und Scham sagten das Hilfesuchverhalten präzise
voraus. Der stärkste Prädiktor dafür, ob jemand
professionelle Hilfe in Anspruch nahm, war der Glaube:
«Andere Menschen halten Essstörungen nicht für echte
Krankheiten.»
Wenn Betroffene
damit rechnen, abgewertet oder nicht ernst genommen zu
werden, bleiben sie still. Obwohl die meisten
Teilnehmenden erheblich litten, hatten weniger als die
Hälfte je eine Behandlung begonnen.
Eine Studie von
2025 der University of South Australia vertiefte
dieses Bild.³ In einem Experiment mit 235 Probandinnen
und Probanden verglichen Forschende die öffentliche
Haltung gegenüber Binge Eating, Anorexie und Bulimie
mit der Haltung gegenüber Depression.
Essstörungen werden deutlich strenger
beurteilt
Besonders Binge
Eating wurde als selbstverschuldet betrachtet –
verknüpft mit gewichtsbasierten Vorurteilen. Die
Forschenden kamen zu dem Schluss, dass diese
Fehleinschätzungen «direkt das Hilfesuchen und die
Genesung behindern» und Scham und Isolation weiter
verfestigen.
Auch qualitative
Arbeiten mit Jugendlichen bestätigen das. Eine Studie von
2023 zeigte, dass Verleugnung, Angst
vor Etikettierung und tiefe Scham viele junge Menschen
davon abhalten, ihr Verhalten gegenüber Familien oder
Therapeutinnen offenzulegen.
Geheimhaltung sei
kein Widerstand, sondern Selbstschutz – der Versuch,
Würde zu bewahren in einer Umgebung, die allzu oft
moralisch urteilt statt empathisch reagiert. Diese
Ergebnisse bestätigen, was viele intuitiv wissen:
Schweigen ist keine Sturheit, sondern eine
Überlebensstrategie in einer Welt, die noch immer
nicht versteht.
Das Stigma
bleibt enorm
«Es ist immer noch eine der am
meisten missverstandenen Krankheiten der Welt», sagt
Lauren. «Selbst Fachkräfte vermeiden die Behandlung,
weil sie langsam, komplex und weniger ‚belohnend‘ ist
als andere Therapieformen. Aber genau deshalb braucht
sie mehr Aufmerksamkeit.»
Sie beobachtet, dass soziale Medien
vieles verschlimmert haben. «Ich beginne Behandlungen
oft damit, dass Klientinnen ihre Feeds überarbeiten,
Triggerquellen entfolgen, Warnsignale erkennen und
lernen, das Scrollen zu stoppen, sobald ihr Nervensystem
überfordert reagiert», erklärt sie. «Das Umfeld ist
toxisch, und man kann nicht heilen, wenn man sich
ständig Gift aussetzt.»
Wir messen uns
heute nicht mehr mit Models oder Schauspielerinnen,
sondern mit jedem gefilterten Bild im Netz, oft
getarnt als gesunder Lebensstil unter dem Label 'Clean
Eating'. Doch wie Lauren betont: «Es gibt kein
‚sauberes‘ oder ‚schmutziges‘ Essen, kein gutes und
kein schlechtes. Essen ist neutral. Wir dürfen von
allem etwas haben.»
Sie sieht diese
Problematik besonders bei ihren «Restrictive Intake
Disorder Klient:innen», oft Menschen mit anorektischen
Mustern. «Essstörungen sind so komplex, weil sie so
stark auf äusserem Feedback beruhen», erklärt Lauren.
«Es zählt, was andere denken, und nicht, was man
selbst über sich denkt. Das allein ist schon eine Form
der Sucht.»
Mein Heilungsweg begann in einem Ashram in
Frankreich
Mein eigener
Genesungsweg begann, als ich mich in einen Ashram im
Süden Frankreichs begab. Durch tägliche Meditationen
begann ich mich zum ersten Mal selbst zu spüren und
freundlich mit mir umzugehen. Zeit in der Natur, Traumaarbeit
und ein achtsames Leben halfen mir dabei, meine
Seele zu nähren, statt sie zu kasteien.
Kurz gesagt: Ich bekam eine Ahnung
davon, was es heisst, sich selbst zu lieben.
Mit der Zeit wurden Cravings weniger
und hörten
die Süchte auf. Nicht nur nach Essen, Drogen oder
Anerkennung, sondern nach Gesehenwerden. Denn heute sehe
ich mich selbst. Und ich wünsche mir, dass auch andere
diesen Blick auf sich finden.
Es ist wie ein
Puzzle, dessen Teile in einem selbst liegen. Man muss
sie nur finden und zusammensetzen. Und am Ende, auch
wenn man die Risse noch sieht, ist das Gesamtbild
wunderschön.
Über die Autorin
Judith Heede ist
deutsche Journalistin und Autorin mit den
Schwerpunkten Mental Health und Reisen. Sie schreibt
über die Wechselwirkungen von Psyche, Kultur und
Heilung und veröffentlicht ihre Essays, Reportagen und
Experten-Interviews auf ihrem unabhängigen Substack-Kanal
«Just Judith», wo es um Trauma, Transformation
und inneres Wachstum geht.
¹ Strober, M.,
Freeman, R. & Morrell, W. (1982). The relationship
of personality and family variables to eating disorder
patterns in anorexia nervosa: A controlled study.
Journal of Psychiatric Research, 17(4), 503–512.
² Griffiths, S.,
Fuller-Tyszkiewicz, M. & Brennan, L. (2024).
Stigma and shame as barriers to help-seeking among
people with eating disorder symptoms: A
community-based study. Journal of Eating Disorders,
12(1), 44.
³ Durkin, S. J.
et al. (2025). Public perceptions of eating disorders
versus depression: A comparative experimental study.
University of South Australia, School of Psychology,
Research Report.